Sehr viele Kinder zeigen sprachliche Auffälligkeiten. Hänseleien sind oft nur eine der Folgen. Die Probleme pflanzen sich am weiteren Bildungsweg fort und führen zu Benachteiligungen. Seit 55 Jahren helfen LogopädInnen der Caritas dabei, Sprachprobleme ausmerzen.
Laura und Lisa schauen gebannt auf die Bilder vor ihnen. Vier Zeichnungen zeigen eine Frau – mal im Sonnenschein, mal im Regen, mal mit Schirm, mal ohne. „Die Frau hat einen Regenschirm, obwohl die Sonne scheint“, sagt Logopädin Sabine Wöß. Laura zeigt auf eines der Bilder. „Richtig!“, ruft Wöß. Lisa mischt sich ein: „Die braucht den ja nicht! Nur wenn es regnet!“ – „Vielleicht ist es ein Sonnenschirm“, meint Wöß. „Nein!“, ruft Lisa bestimmt.
Die beiden Mädchen sind unzertrennliche Freundinnen. Darum ließ Lisa auch nicht mit sich verhandeln, als Laura zum logopädischen Screening gerufen wurde – sie wollte unbedingt mit! Sie selbst hat das Screening schon hinter sich. Um den Kindern beim Screening ein möglichst entspanntes Umfeld zu bieten, passt sich Sabine Wöß so weit es geht den Wünschen der Kinder an.
Spielerisch testet Sabine Wöß ab, wie die Kinder sprechen, wie gut sie hören und wie ihre Feinmotorik ist. Die Kinder blasen eine Feder über den Tisch und benennen ihre Farbe, versuchen im Audiometer Töne zu hören und klatschen ihren Namen in Silben. Zwischendurch stellt die Logopädin auch immer wieder Fragen – bei einem Hundebild erkundigt sie sich, ob die Kinder Haustiere haben, und beim Bild eines Pferdes, ob sie schon einmal geritten sind. Im freien Sprechen kommen sprachliche Probleme klarer zum Vorschein.
GROSSTEIL DER KINDER BETROFFEN
Jeden Herbst schwärmen die LogopädInnen der Caritas aus, um flächendeckend Screenings zu machen. Gemeinsam mit LogopädInnen des Magistrats und der Volkshilfe werden alle Kinder im vorletzten Kindergartenjahr untersucht. Sie untersuchen Mädchen und Buben im vorletzten Kindergarten-Jahr. „Werden sprachliche Auffälligkeiten frühzeitig erkannt, können sie erfolgreich behandelt werden“, weiß Barbara Kraxberger, Leiterin der Caritas-Logopädie. Bei zwei Drittel der Kinder, die in Therapie sind, wird das sprachliche Defizit gänzlich behoben oder so weit verringert, dass eine weitere Therapie nicht mehr nötig ist.
An diesem Vormittag gibt es bei Sabine Wöß keine gravierenden Schwächen. Ein Mädchen redet von der „Schonne“, eine andere Fünfjährige verwechselt „dr“ und „gr“. Ein häufiger Fehler, der von Eltern oft nicht entdeckt wird. Wenn die Kinder „eins – zwei – grei“ sagen, überhört man den Fehler leicht. Diese Auffälligkeiten können jedoch ein Hinweis sein für eine auditive differenzierungsschwäche, die – unbehandelt – sich oft erst im Schulalter durch Probleme beim Lesen und Schreiben lernen zeigt. Mehr als ein Drittel der Kinder hat Defizite, die therapiebedürftig sind. Ein weiteres Drittel braucht keine Therapie, jedoch werden Eltern und PädagogInnen angeleitet, wie sie ein sprachförderliches Vorbild für ihre Kinder sein können. Nur ein Drittel der Kinder ist sprachlich unauffällig.
THERAPIE MITTELS IPAD
Insbesondere die Unterstützung der Kindergarten-PädagogInnen und der Eltern wirkt sich aus. Karin Pasteyrik ist seit über zwanzig Jahren als Logopädin vor allem im heilpädagogischen Bereich unterwegs. Sie therapiert Kinder mit einfachen Sprachdefiziten, aber auch mit Entwicklungsverzögerungen oder Autismusspektrumsstörung. Pro Woche hat sie 45 Minuten für jedes Kind. In dieser Zeit kann sie wichtige Impulse setzen. Im Heilpädagogischen Kindergarten Wels ist bei ihr seit einem Jahr Anastasia in Therapie. Die 4-Jährige hat eine Entwicklungsverzögerung. Letztes Jahr sprach sie kaum und konnte sich maximal ein paar Minuten auf eine Sache konzentrieren. Mittlerweile schafft sie es, über die Therapie hindurch vertieft bei der Sache zu sein. Am iPad zeigt Karin Pasteyrik ihr Körperteile – Hand, Mund, Ohren, etc. Anastasia benennt die Körperteile, dann zeigen beide gemeinsam auf die eigenen Ohren. Die Logopädin fügt dabei immer das entsprechende Verb hinzu. „Die Ohren hören“, sagt sie. Seit letztem Jahr arbeitet sie mit dem Mädchen am Wortschatz – nun werden die Verben immer wichtiger, denn nur mit Hauptwörtern kann sie keine Sätze bilden.
Anastasias Fortschritt haben auch die PädagogInnen ermöglicht, welche die Impulse von Karin Pasteyrik aufgegriffen haben. Die Eltern tragen ebenfalls ihren Teil bei. Unter diesen Bedingungen ist der Erfolg garantiert. Doch nicht alle Eltern sind so dahinter. „Wenn die Eltern nicht mithelfen, müssen wir uns überlegen, ob wir nicht besser einem anderen Kind die Chance geben. Die Wartelisten auf einen Therapieplatz sind lange“, meint Pasteyrik.
ERNÄHRUNG UND SCHNULLER BEEINFLUSSEN DEFIZITE
Nach zwanzig Jahren logopädischer Arbeit hat Pasteyrik das Gefühl, dass Kinder heutzutage weniger können als früher. Beim Screening sollen die Kinder auf einen Blick erfassen, wieviele Augen auf der Seite eines Würfels sind. Früher schafften sie das leicht, heute müssen sie oft zählen – auch wenn der Würfel nur drei Augen zeigt. Auch eine offene Mundhaltung und das Speicheln kommen vermehrt vor. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Zum einen habe sich das Essverhalten geändert. „Kinder bekommen oft nur noch weiche Speisen, die sie nicht kauen müssen, z.B. eine Milchschnitte. Selbst die ‚gesunde Jause‘ ist eine Banane. Die Muskulatur entwickelt sich durch das fehlende Kauen nicht – aber genau diese Muskeln sind für das Sprechen wichtig.“ Zum anderen führt die Verwendung des Schnullers nach dem 3. Lebensjahr zu einer falschen Funktion der Zunge. Das fehlende Körpergefühl spielt ebenfalls eine Rolle. Durch Bewegung lernen die Kinder ihren Körper einzusetzen – bis hin zur Zunge. Deshalb ist die logopädische Therapie auch immer mit viel Bewegung verbunden. „Geht man auf den Zehenspitzen, geht die Zunge automatisch nach oben“, erklärt Pasteyrik. „Das hilft für die Aussprache vom ‚T‘.“ Drückt man die Fersen in den Boden, geht nur der hintere Teil der Zunge nach oben, was beim „K“ hilft.
Welche Auswirkungen es hat, wenn sprachliche Auffälligkeiten nicht therapiert werden, erlebt Barbara Kraxberger immer wieder. „Kinder geraten schnell in eine Außenseiterrolle, wenn sie stottern oder sich nicht deutlich ausdrücken können. Manche werden dann aggressiv, andere ziehen sich zurück. Durch die Logopädie holen wir sie aus dieser Randposition heraus. Im Idealfall können Eltern und Kinder das ‚Kapitel Sprache‘ vor der Einschulung abhaken, damit sie sich in der Schule auf die neuen Herausforderungen konzentrieren können.“